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Zum "Glaubenskrieg" zwischen "Traditionalisten" und "Midi-alisten"


Die Community der Drehorgelspieler sinkt dramatisch. Die Zahl der Aktiven wird immer überschaubarer. „Unser Altersdurchschnitt liegt bei 75 Jahren“, klagt einer der renommiertesten deutschen Drehorgelbauer Axel Stüber in Berlin. „Damit der Leierkasten eines Tages nicht als etwas besonders Exotisches nur im Museum gesehen wird, sondern als das, was er lange Zeit schon war: ein Stück liebenswerter Alltag, haben sich Freunde der Drehorgel im Verein „Internationale Drehorgelfreunde Berlin“ zusammen gefunden, um unser Kulturgut zu erhalten“, heißt es auf der Homepage dieser renommierten Interessensgesellschaft: „Es sind Besitzer und Liebhaber der Drehorgel traditioneller Bauart, also mit Walz oder Notenband“, heißt es weiter (http://www.internationale-drehorgelfreunde-berlin.de/index2.php). Folgerichtig sind beim bekannten „Internationalen Drehorgelfest Berlin“ an jedem ersten Wochenende im Juli auch nur Orgeln mit dieser Bauart zugelassen.

Das gilt ebenso für das auch international beachtete alle drei Jahre veranstaltete „Klang- und Orgelfest Waldkirch“ (https://www.stadt-waldkirch.de/start/stadtinformation+und+tourismus/waldkircher+orgelfest.html). Auch der bereits erwähnte Orgelbau Stüber hat sich der „Pflege der weltbekannten Berliner Orgelbautradition (verpflichtet) – natürlich ohne Elektronik (http://drehorgel.net/). Der Drehorgeler mit dem Künstlernamen Ermiko (Youtube-Kanal hier: https://www.youtube.com/results?search_query=Ermiko) sagte mir:

„Ich persönlich als Vollblut-Orgelbauer empfinde das (den Einbau von Elektronik in Drehorgeln, T.B.) als unerträglich, da es eine Versündigung am historischen Original darstellt. In eine Drehorgel gehören schlichtweg keine Batterien, elektronischen Bauteile und auch keine Midi-Steuerung.“


Auf der anderen Seite entwickelten einige deutsche Drehorgel-Unternehmen wie beispielsweise Hofbauer (https://www.hofbauer-orgelbau.de/portrait/), Deleika (https://www.deleika.de/) oder Raffin (https://raffin.de/de/) seit den 80er Jahren elektronische Bausteine. Sie verbauten in ihren Instrumenten anfangs sowohl das Lochband- als auch das elektronische Midi-System. Die empörten Traditionalisten verspotteten solche Instrumente als „Zwitter“. Der durchschlagende Erfolg der neuen Steuerung in Form von einer steil ansteigenden Nachfrage brachte einige Firmen wie zum Beispiel Hofbauer dazu, ganz auf Ihre neu entwickelte Mikrobox 2000 umzuschwenken und Notenbandsteuerungen aus dem Programm zu nehmen. Bis heute halten einige Orgelbauer wie Deleika oder der Wiener Christian Wittmann (https://www.drehorgelmusik.net/) an dieser Zweigleisigkeit fest – lassen also ihre Orgeln entweder mit Notenrollen oder mit Midifiles spielen. Allerdings bieten sie auch reine Midi-Instrumente an.


Dieser Glaubenskrieg, der bis zu persönlichen Anfeindungen auswachsen kann, wird bis heute mit Härte geführt. Niemand kommt aus seinem „Schützengraben“ heraus und ist zu offenen Diskussionen fähig. Im Gegenteil. Die Positionen werden als einzig mögliche „Wahrheit“ hingestellt. Für mich als Neuling mit dem Blick von außen kommen sofort Etikette wie Hardcore und Fundamentalisten in den Sinn.


Dabei gibt es zwischen den beiden Lagern nicht selten begriffliche Unstimmigkeiten bzw. Missverständnisse. Der erfahrene Drehorgler Thomas Koppermann, der sich bis 2006 als „Drehorgel-Tom von Ziegenbek“ einen Namen gemacht hatte, hat sich auf seiner sehr zu empfehlenden Homepage (http://twhk.de/drehorgeln/allgemeines.htm) über theoretische und technische Fragen Gedanken gemacht:

„Die elektronische Notensteuerung sollte nicht als ‚modernes Zeug‘ abgewertet werden, denn sie macht die Drehorgel trotz moderner Technik nicht rpt nicht zu einem Musikautomaten oder Plattenspieler, sondern erspart dem Spieler lediglich das Mitschleppen der vielen schweren Rollen und macht längere, abwechslungsreichere Auftritt und spontanes Reagieren auf Musikwünscht aus dem Publikum überhaupt erst möglich. Auch viele komplizierter notierte oder sehr schnelle Musikstücke können erst mit der elektronischen Hilfe problemlos gespielt werden“.

Koppermann gibt weiter zu bedenken, dass auch die Lochsteuerung im Kern bereits digital ist, auch wenn der Begriff selbst in der historischen Perspektive nicht existiere. Denn wie im modernen Computer gibt es auch beim Notenband nur zwei Zustände 0 oder 1 (die modernen Quantencomputer haben dieses jahrzehntelange technische Prinzip inzwischen aufgehoben) bzw. Stift oder kein Stift auf der Walzenorgel und Loch oder kein Loch auf dem Notenband.


Werfen wir einmal einen Blick auf zufällig ausgewählte andere Musikinstrumente. Die Akustik-Gitarre hat sich seit den 60er Jahren zur E-Gitarre weiterentwickelt. Ohne diese Neuerung wäre die Popmusik wie wir sie heute kennen, nicht möglich gewesen. Dasselbe gilt für das E-Piano und das Keyboard, die dem klassischen Klavier entstammen. Das wurde seinerseits aus dem Cembalo weiterentwickelt. Selbst die Geige (Violine) ist in ihrer elektrischen Form in den Konzertsälen dieser Welt salonfähig. Nehmen wir als ein zufällig ausgewähltes Beispiel David Garret, der nicht nur bei seinem im Crossover-Stil intonierten Stück Purple Rain von der klassischen Geige zur e-Violine wechselt:


Auch wenn die Traditionalisten der Drehorgelszene es nicht gern hören dürften. Auch in ihrer Welt hat es so viele Neuerungen gegeben, die eigentlich ihrem eigenen Credo nach der Konservierung der „reinen“ Drehorgel widerspricht. Die Weiterentwicklung von der Walzen- zur Notenbandorgel war ein Riesenschritt, der bei niemandem auf Widerstand gestoßen ist. Mit welcher Begründung muss nach dieser Entwicklungsetappe für immer Schluss sein? Während früher die Notenbänder in mühseliger Handarbeit gestanzt wurden, werden heute automatische Stanzmaschinen mit Kommandos direkt aus dem Computer gesteuert. Wurden die ersten Lieder auf Notenrollen aus Papier und Karton fixiert, tritt heute immer mehr Plastik als Material an ihre Stelle.


Die Musiker an historischen Drehorgeln halten ganz offensichtlich an einer Fiktion fest, die einer Überprüfung nicht Stand hält. Die oft beschworene angeblich „gute alte Drehorgelzeit“ hat es nicht gegeben. Nach dem Ersten Weltkrieg versuchten nicht selten Kriegsversehrte, die durchs soziale Raster gefallen waren, mit Leierkästen ihr Überleben zu sichern. Die bei vielen Drehorgel-Frauen und –männern gepflegte üppige historische Kleidung wird schon bei nur oberflächlicher Betrachtung dem soziokulturellen Kontext der Drehorgelgeschichte nicht gerecht. Ja solches Outfit ist ein Stilbruch.


Niemand sollte seine Meinung über Drehorgeln zur absoluten Wahrheit überhöhen. Ein solches Schwarz-Weiß gibt es wie üblich im Leben nicht. Und selbst in den exakten Naturwissenschaften ist das Richtige oder Falsche nicht immer auszumachen. Denken wir nur an die Corona-Epidemie der letzten beiden Jahre. „Drei Virologen – vier Meinungen“, hieß es da nicht selten. Und alle drei Wissenschaftler konnten gute Gründe für ihre Positionen ins Feld führen.

Niemand soll daran gehindert werden, seine Vorlieben für bestimmte Drehorgelmodelle zu verfolgen und auszuleben. Niemand muss den angeblich falschen Instrumenten abschwören. Jeder soll weitermachen, wie es ihm beliebt. Nur diese vermeintliche Exklusivität und Ausschließlichkeit (m)einer Position sollte nicht weiter verfolgt werden. Denn es ist logisch nicht nachvollziehbar, wie sich die schrumpfende Gemeinschaft der Drehorgelspielerinnen mit diesem Glaubenskampf selbst noch weitere Knüppel zwischen die Beine werfen muss. Im Gegenteil. Gemeinsam sollten Zukunftsprojekte entwickelt werden, die das Überleben dieser Musik auch in der nächsten Generation garantiert. Denn solche nach vorn gerichteten Überlegungen sind bisher kaum in Sicht.









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