Werfen wir einen beispielhaften Blick auf ein zufällig ausgewähltes Drehorgelorchester, das damit wirbt, nicht weniger als 1.300 Lieder im Programm zu haben. Schon eine oberflächliche Systematik zeigt: Der größte Teil stammt aus längst vergangenen Tagen, die den wenigsten Jungen heute etwas sagen:
Heinz Sommer (1951), Gus Backus (1961), Udo Jürgens (1961), Heintje (1968),Freddy Quinn (1964), France Gall (1965), Roy Black (1965), Roberto Blanco (1971), Tony Marshall (1971), Christian Anders (1972), Julio Iglesias (1971), Costa Cordalis (1976), Karel Gott (1979), Marianne Rosenberg (1973), Christian Anders (1972), Rex Gildo (1972)
Selbst modernere Stücke wie z.B. von Helene Fischer, Andrea Berg, DJ Ötzi, Andreas Gabalier, Backstreet Boys, Tim Bendzko, Jürgen Drews
… sind auch schon 10-15 Jahre alt
… und mit klarem Schwerpunkt deutscher Schlager
Wir sehen ein deutliches Übergewicht von Balladen, Märschen, Walzern, Polkas und Volksliedern vom Beginn des letzten Jahrhunderts wie zum Beispiel „Alte Kameraden“ von 1887, Walzer von 1800 oder Märsche aus der Mitte des 19. Jahrhunderts.
Rufen wir Youtube auf und suchen nach Drehorgelstücken. Wir finden den Böhmischen Traum (1997), den Schneewalzer (1887/1968) in verschiedenen Variationen, mehrere Versionen von Alte Kameraden, „beliebte Märsche“, Strauß-Walzer, Die Fischerin vom Bodensee (1947), Rosamunde (1927), „Fliege mit mir in die Heimat“ (1930), Rudi Schurickes „Florentinische Nächte“ (1953), Potpourri von Walter Kollo (1878-1940), Schneeflöckchen, Weißröckchen (19. Jahrhundert), Polkas und Walzer in mehreren Ausführungen, Wiener Potpourri, Prinz Eitel Friedrich-Marsch (1907) …
Ja, es gibt sie natürlich auch, die Ausnahmen, die moderneren Lieder wie zum Beispiel die Stücke von Erich Andre Steiner, Smoke on the Water von Deep Purple, The Wellerman, Heal the World von Michael Jackson (1992), Don’t Leave Me von Pink (2017), die verschiedenen ABBA-Medleys, ein Queen-Medley, ACDC, Whitney Houston …
Doch diese zeitgenössischeren Musiken sind die Ausnahme von der Regel. Das durchschnittliche Liedgut der meisten DrehorglerInnen besitzt einen klaren Schwerpunkt auf die ältere Vergangenheit. Man muss kein Musiktheoretiker sein, um festzustellen, dass jüngere Menschen möglicherweise Schwierigkeiten haben, sich in diesen Stücken wiederzufinden?
Folgerichtig werden die international „besten Popsongs aller Zeiten“ beinahe komplett ausgeblendet. Egal, ob man das Ranking der Fachzeitschrift Rolling Stone (https://www.rollingstone.com/music/music-lists/best-songs-of-all-time-1224767/) oder beispielsweise des Musikexpress‘ (https://www.musikexpress.de/die-50-besten-songs-des-jahres-2021-2093565/) zugrunde legt, klangvolle Namen wie Peter Gabriel, Bob Dylan, Lou Reed, Neil Young, Talking Heads, David Bowie, Kate Bush, Bruce Springsteen, Prince, Kraftwerk, Kings – um nur einige wenige Beispiele zu nennen - werden links liegen gelassen.
Klar ist, dass viele berühmte Pop-Stücke nicht auf die Ebene der Drehorgeln übertragen werden können. Aber sollte das nicht generell als Ausrede dienen?
Bei der Suche nach ausgefallener Drehorgelmusik jenseits des geschilderten Mainstream stößt man unweigerlich auf den französischen Großmeister Pierre Charial, der dieses Instrument auf ganz neue künstlerische Ebenen gehievt hatte: http://www.hjs-jazz.de/?p=00126 Seine vom Orgelbaumeister Andre Odin gebaute Drehorgel mit einem Tonumfang von dreieinhalb Oktaven, 156 Pfeifen und drei Registern wird wahrscheinlich auch im internationalen Maßstab ein Ausnahme-Instrument bleiben: https://www.musique-mecanique.net/en/ Legendär ist seine Zusammenarbeit mit dem prominenten deutschen Bassklarinettisten Michael Riessler: https://www.jazzhalo.be/reviews/concert-reviews/duo-riesslercharial-200-g-die-man-hoeren-konnte/
Ein ganz Großer ist auch Adrian Oswald: http://www.oswalt-orgel.com/aoswalt.htm Seine von der Waldkircher Meisterwerkstatt Jäger & Brommer im Jahr 2011 fertiggestellte Orgel gilt als „größte Handdrehorgel der Welt“. „Eine Orgel im XXXL-Format“, „die größte jemals gebaute Handdrehorgel“, überbieten sich die Hersteller in der Beschreibung des sensationellen Instruments. Auch dieser Künstler hat der Drehorgel zu einem bisher unbekannten Höhenflug verholfen.
Einen Namen gemacht hat sich auch Dr. Jürgen Braun. Er hatte sich zur Aufgabe gemacht, die Drehorgel mit klassischer Musik in den Konzertsälen zu verankern: https://www.drehorgel-klassik.de/
Etliche Jahre machte auch die Schweizerin Esther Meyre Müller als "Jazzorgellady" von sich reden: Als Quartett begeisterte sie gemeinsam mit Musikern am Saxophon, Schlagzeug und Kontrabass ihr Publikum: http://www.oph.ch/index1.htm
Doch diese Ausnahmekünstler können natürlich nicht für den Hobby-Drehorgler zum Maßstab genommen werden. Dennoch gibt es einige (ausgewählte) Beispiele von Musikern, die mit ihrer Drehorgel neue, zukunftsweisende Wege beschritten haben.
Der Schweizer Paul Ragaz ist zwar von Hause aus Flötist, hat sich aber als „Multi-Instrumentalist“ (Selbstbeschreibung) einen Namen gemacht: https://paul-ragaz.ch/ueber-mich/ In den letzten Jahren hat er seine Aufmerksamkeit auch auf die Drehorgel gerichtet und ihr Erstaunliches entlockt.

Ganz anders, aber dennoch als große Ausnahme, geht Heinz-Wilhelm Schnieders vor: https://www.facebook.com/hewisch Der in Aurich in Ostfriesland beheimatete Musiker hat die Aktualität als Markenzeichen entwickelt: Er reagiert mit selbst arrangierter Drehorgelmusik auf Tagesereignisse. Zuletzt spielte er direkt nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine nicht nur die ukrainische Nationalhymne, sondern auch in diesem Land populäre Volksmusik. Als der Sänger der Kultband Procol Harum, Gary Brooker, im Februar starb, intonierte Schnieders kurz darauf mit seiner Orgel den Kulthit der Gruppe „A Whiter Shade of Pale“. Diese Reaktionen auf aktuelle Entwicklungen kommen beim Publikum offensichtlich bestens an.

Ein weiteres positives Beispiel für das Bemühen um zeitgenössiche Stücke schafft Herwig zum Berge. Er präsentiert in seinen "Sonntagskonzerten" auf Youtube Musiksütcke, die man auf den ersten Blick nicht mit einer Drehorgel verbinden würde. Da finden wir beispielsweise "Smoke on the water" von Deep Purple (https://www.youtube.com/watch?v=LHzMksjlZvk), "Dizzy fingers" von Zez Confrey (https://www.youtube.com/watch?v=Sme6zJQZdCA), "Englishman in NY" von Sting (https://www.youtube.com/watch?v=E-6PvVD6X-w) usw. usw.

Um gleich einem Missverständnis vorzubeugen: Niemand will auch nur einen einzigen Drehorgel-Musikanten drängen, seine bisherige Spielpraxis aufzugeben. Das Instrument lässt mit all seinen Möglichkeiten Raum für jede gewünschte Interpretation. Es gilt aber auch: Zu viel Zufriedenheit, Selbstbestätigung und gesunder Egoismus könnte für die Zukunft dieser Musik eine Bedrohung darstellen. Denn wenn es nicht gelingt, sie auch an die nächste Generation weiterzugeben, endet der Weg unweigerlich im Museum. Wenn es nicht gelingt, die Generation 40 plus zu gewinnen, sieht es die Zukunft düster aus. Einige Aktive nehmen das fatalistisch und hoffen, dass diese Musik vielleicht irgendwann wieder eine Renaissance erlebt. Doch wie wahrscheinlich ist das?
Ideen zur möglichen Belebung der Drehorgel-Community diskutiert ein eigener Blog-Beitrag.
Anmerkung:
Der Verfasser referiert bei personenbezogenen Substantiven auf alle Menschen
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